50 Shades of Polyamorie: Warum es wichtig ist, was über Mehrfachbeziehungen in der Zeitung steht
Folgender Artikel wurde am 14. Jänner 2017 auf dem Wissenschaftsblog des jungen Forschungsnetzwerkes Frauen- und Geschlechtergeschichte veröffentlicht:
Polyamorie – das sind laut akademischer Definition „Emotionale und sexuelle Mehrfachbeziehungen unter dem Wissen aller Beteiligten“. Ent- oder widerspricht diese akademische Zuschreibung der Eigenwahrnehmung sowie der medialen Fremddarstellung? Oder hat ‚die Wissenschaft‘ bis jetzt etwas Essentielles übersehen?
Der Blick der Medien
Folgende Begriffe finden sich in deutschsprachigen gedruckten Medien, wenn Polyamorie zum journalistischen Thema gemacht wird:
(Bild am Ende des Artikels)
Der Blick der Wissenschaft
Mit diesen ungefähr fünfzig (unterschiedlichen und widersprüchlichen) Attributen beschreibt die deutschsprachige Zeitungs- und Zeitschriftenwelt Polyamorie. Damit ist sie in guter Gesellschaft, denn auch die Wissenschaft hat keine einheitliche Definition von Polyamorie gefunden; die Unterschiede in den Definitionen weisen darüber hinaus bereits auf die Forschungslücken zum Thema hin: Luke Brunning[1] bezeichnet Polyamorie als „eine Form konsensualer Non-Monogamie“[2]; Mitchell et al. [3] verstehen Polyamorie als „gleichzeitige konsensuale romantische Beziehungen mit mehreren Partnern“ [4]; Schröter und Vetter haben eine und/oder-Phrase in ihrer Definition eingebaut („Polyamorie ist ein Beziehungskonzept, dass es ermöglicht, sexuelle und/oder emotionale Liebesbeziehungen mit mehreren Partner_innen gleichzeitig einzugehen“)[5]; Haritaworn et al.[6] führen in Ihrer Definition noch die Dimension der Dauer zu den Beziehungen hinzu: „Polyamorie beschreibt eine Form von Beziehung, in der es möglich, zulässig und lohnenswert ist, mehrere intime und sexuelle Beziehungen mit mehreren Partnern gleichzeitig (und über einen längeren Zeitraum) zu führen.“ [7] Nüchtern betrachtet ist es eigentlich ‚nur‘ ein Neologismus, zusammengesetzt aus den Worten polys (griechisch für „viele“) und amor (Latein für Liebe)[8] – sie sehen schon liebe Leserinnen und Leser, die Schwierigkeiten mit den Mehrfachbeziehungen beginnen schon beim Festlegen, worüber wir eigentlich sprechen.
Warum ist es wichtig, was wie in der Zeitung steht und worüber wir dann sprechen?
Medien (mit)bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs. Vor allem wenn es sich um ein neues Thema handelt, zu dem Personen noch keine festgefahrene Meinung haben („Schemata“), trägt das, was das Publikum medial vermittelt bekommt, stark zum Meinungsbildungsprozess bei. Dieser Zugang wird in der Kommunikationswissenschaft „Framing“ genannt.[9]
Die Macht der Definition
Und warum ist es denn so wichtig, eine einheitliche Definition zu finden? Im Unterschied zu Personen, die sich einem Buchstaben aus dem LGBT(I)-Akronym zugehörig fühlen, gibt es für bekennende Polys keinen Minderheitenschutz – und um diesen einzufordern, müsste erst geklärt sein was Polysein oder Polyleben oder Polyfühlen eigentlich bedeutet: Status quo der Forschung, so man sich auf aktuelle englischsprachige Journal-Artikel berufen will, sind drei unterschiedliche Zugänge, denen ich nach den ersten Ergebnissen meiner Forschung einen vierten Zugang hinzufügen möchte: Sexuelle Orientierung, Identität, intime Praxis oder Mehrfach-Liebesbeziehungen – um es genauer darzustellen: Polyamorössein als sexuelle Orientierung (1), Polyamorösleben als Form von Identität (2), polyamoröses Handeln in Form von intimer Praxis (3), oder polyamoröses Empfinden in Form von Liebesbeziehungen zu mehr als einer Person (4). Mit dieser Erkenntnis kann in weiterer Folge die Aufnahme der Polyamorie in die „LGBT-Familie“ gefordert werden, und damit ist der erste wichtige Schritt in Richtung rechtlicher Anerkennung getan.
Wie wird Polyamorie kategorisiert?
Ein Plädoyer, Polyamorie als sexuelle Orientierung zu verstehen, stammt von Ann Tweedy von der Hamline University School of Law. Die Assistenzprofessorin beruft sich in ihrem meistgelesenen Artikel auf die Diskriminierung, denen Menschen ausgesetzt sind, die polyamorös leben, und argumentiert, warum die derzeitig nach ihrem Verständnis enge Definition von sexueller Orientierung (auf der Basis von Geschlecht, zu denen sich Menschen hingezogen fühlen) breiter gefasst werden sollte.[10] Christian Klesse widerspricht diesem Zugang, weil er einen sich im Diskurs fortsetzenden Kulturimperialismus in diesem Zugang vermutet. Laut dem Soziologen wird dadurch ein normativer Tropus geschaffen, der die Sinnverständlichkeit von Intersex-, Transgender-, Gender-queer- oder Pan-gender-Identitäten sowie erotische Subjektivität behindert und in dessen Konsequenz eine verstärkte Reduktion der Thematik befürchtet.[11]
Polyamorie als Identität zu betrachten ist die Kernaussage eines der ersten wissenschaftlichen Artikel zum Thema, der in einem peer-reviewed Journal erschienen ist. Die Britin Meg Barker (mittlerweile Meg-John Barker mit Bindestrich, um die Binärität von Geschlecht zu hinterfragen)[12] verweist auf der Basis einer sozialkonstruktivistischen und kognitivistischen Perspektive, wie sich Poly-Individuen persönliche und Gruppen-Identitäten in Relation zur konventionellen Monogamie erschaffen, und auf dieser Basis Konsequenzen für die polyamoröse Eigenwahrnehmung erkunden.[13] Die dritte Kategorie der intimen Praxis wird zwar von Klesse im Titel seines Artikels mit der gleichen Wertigkeit wie Identität und sexuelle Orientierung bedacht, im Fließtext bleibt er allerdings die Quellen für diese Aussage schuldig. Die nicht belegte Kernaussage lautet, dass eine persönliche Disposition festgelegt wird, um sich für den Eintritt in mehr als eine intime und/oder sexuelle Beziehung, die parallel geführt werden will, vorzubereiten.[14]
Was diese drei Ansätze eint, ist dass Sie auf dem Datenmaterial von meist qualitativen Studien innerhalb der polyamorösen Community im englischsprachigen westlichen Raum erstellt wurden. Auf der Basis meiner vorläufigen Forschungsergebnisse darf ich eine weitere Überlegung hinzufügen, deren Erkenntnisse sich auf zwei Gegebenheiten stützen, die in der Form noch nicht untersucht wurden: Die medial vermittelte Fremddarstellung polyamorös fühlender, lebender, bekennender, liebender Personen im deutschsprachigen Raum. Die Quintessenz liegt in der letzten Zuschreibung – Polyamorie ist die emotionale Liebe zu mehr als einer Person.
Wie misst man Polyamorie?
In dem vom FWF für drei Jahre finanzierten Forschungsprojekt „Polyamorie in medialer, sozialer und Identitätsperspektive“ werden für die mediale Fremddarstellung alle Zeitungs- und Zeitschriftenartikel aus dem deutschsprachigen Raum, die seit der Erstnennung im Jänner 2007 erschienen sind, und über eine inhaltliche Dimension zum Schlagwort Polyamorie verfügen, untersucht. Das ergab über den Zeitraum einer Dekade (bis zum Jänner 2017) eine Anzahl von knapp 400 Artikel. Davon wurde die ersten 100 Artikel anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring im Detail bereits analysiert und ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass in sieben Kategorien (dem Untersuchungsdesign entsprechend wurde weiteren Kategorien Raum eingeräumt, sofern eine Mindestanzahl an Nennungen erfolgte) Polyamorie als Identität mit über 35% aller Nennungen das häufigste Verständnis von Polysein dargestellt wird, dass aber bereits an zweiter Stelle mit über 30% Polyamorie als Multiple Liebesbeziehung zu mehr als einer Person in der Presse reproduziert wird. Sollten sich diese Ergebnisse auch für die weiteren 300 noch zu analysierenden Artikel fortsetzen, muss man zumindest bei Hinzunahme der medialen Repräsentation als Untersuchungsgegenstand der emotionalen Bindung mehr Raum als nur eine von mehreren Zuschreibungen in der Definition einräumen.
Ist die Frage damit gelöst?
Die Frage, warum es wichtig ist was über Polyamorie in der Zeitung steht, sollte damit beantwortet sein. Was genau über Polyamorie in der Zeitung steht, und wie darüber geschrieben wird, wissen wir allerspätestens zu Projektende im Frühling 2019 dann im Detail.
Anmerkungen
[1] Brunning, L. (2016). The Distinctiveness of Polyamory. Journal of Applied Philosophy, 33(3), S. 1.
[2] „A form of consensual non-mongamy“.
[3] Mitchell, M. E., Bartholomew, K., & Cobb, R. C. (2014). Need Fulfillment in Polyamorous Relationships. The Journal of Sex Research, 51(3), S. 329.
[4] “(…) simulteneous consensual romantic relationships with multiple partners“
[5] Schroedter, T., & Vetter, C. (2010). Polyamory. Eine Erinnerung. Stuttgart: Schmetterling-Verl., S. 26.
[6] Haritaworn, J., Lin, C.-j., & Klesse, C. (2006). Poly/logue: A Critical Introduction to Polyamory. Sexualities, 9(5), S. 515.
[7] „Polyamory describes a form of relationship, where it is possible, valid and worthwile to maintain (usually long-term) intimate and sexual relationships with multiple partners simultaneously”.
[8] Vgl. Pieper, M., & Bauer, R. (2014). Polyamorie: Mono-Normativität – Dissidente Mikropolitik – Begehren als transformative Kraft? Journal für Psychologie, 22(1), S. 7.
[9] Vgl. Matthes, J (2014). Framing. Baden-Baden: Nomos, S. 9-13.
[10] Vgl. Tweedy, A. (2011). Polyamory as sexual orientation. University of Cincinnati Law Review, 79(4), 1460 – 1515.
[11] Vgl. Klesse, C. (2014). Polyamory: Intimate practice, identity or sexual orientation? Sexualities, 17(1/2), 81 – 99.
[12] Persönlicher Mailverkehr im Rahmen der Adaption Ihres Namens für die Polyamorie-Projekthomepage: http://polyamorie.univie.ac.at/kooperationen/, Zugriff 14/10/2016.
[13] Vgl. Barker, M. (2005). This is my partner, and this is my… partner’s parter: Constructing a polyamorous identity in a monogamous world. Journal of Constructivist Psychology, 18(1), 75 – 88.
[14] Vgl. Klesse, 2014, S. 90.